DEUTSCH
Die Geschichte von Belarus ist voller tragischer Ereignisse – Kriege zwischen Nachbarländern, Aufteilungen der Gebiete, der Wandel historischer Sichtweisen. Genauso ist auch die Geschichte der belarusischen Kunstkultur reich an Zeugnissen und Erzählungen von verlorenen Reliquien und Artefakten.
Eine dieser Erzählungen handelt von den 12 Aposteln der Radziwill-Dynastie. 12 lebensgroße Statuen der Apostel des Neuen Testaments sind aus Gold angefertigt (beziehungsweise mit Gold überzogen) und mit Edelsteinen geschmückt worden. Während dem Zerfall der Polnisch-Litauischen Union sind die Statuen verschwunden und sollen heute laut einer Legende irgendwo im Schlosspark Njaswisch (Niasviž) vergraben sein.
Zu Schulzeiten wohnte ich in Njaswisch und habe oft von den vergrabenen Aposteln gehört. Noch öfter bekam man zu hören wie schön es doch wäre sie zu finden. Das war ausschlaggebend für mich, mich mit Werten auseinanderzusetzen – ideeller, historischer und kultureller Natur.
Die belarusische Kultur ist eine Mischung aus christlichem und heidnischem Erbe. Christliche und heidnische Symbole sind darin auf eine organische Art und Weise verflochten. Ich stelle die Apostel, ihr Leben und ihren Tod, mithilfe der visuellen Sprache unserer Kultur dar und umgekehrt stelle ich unsere Kultur mithilfe der Apostel dar.
Alltägliche und religiöse Artefakte, die in Museen und verlassenen Dörfern zu finden sind, sind für mich der Schlüssel zum Verständnis der modernen Kultur von Belarus und deren Rolle im Kontext der europäischen und der Weltkultur.
Nicht weniger wertvoll sind für mich aber die menschlichen Taten, die Gabe, die Schönheit des uns umgebenden Lebens zu sehen, Wertvolles direkt vor seinen Augen zu finden. Ich bin der Meinung, dass jeder von uns imstande ist, neue Schätze zu schaffen.
Unsere wichtigsten Werte sind neben der Kultur, den erhalten gebliebenen Artefakten und den Kenntnissen, aktive und gebildete Menschen, die in der Lage sind, zu sehen und zu handeln. Wir sind die Herren unserer Kultur.
Daher tritt der Betrachter in eine Wechselwirkung mit dem Projekt auf visueller und räumlicher Ebene. Das Selfie wird zum Bestandteil des Projekts, indem es auf den persönlichen Wert des Schauenden und dessen Verbundenheit mit dem Inhalt des Projekts aufmerksam macht.
1
Die Figuren der Apostel erinnern mich daran, dass jeder in das Kulturnetz verwoben ist, auch wenn es nicht offensichtlich ist. Individuen weben ihren Teil der Kultur und beeinflussen die Gesellschaft.
Der Rhombus ist eines der häufigsten Elemente der belarusischen Ornamentik (bedeutet Sonne), die Basis der Strohspinnen (ein traditionelles Amulett), sowie “das Herz” der hölzernen Giebel der Häuser in Polesien.
2
Das Karomuster ist sehr verbreitet in der belarussischen Weberei: Ob gleichförmig, in unterschiedlichen Größen, oder sogar in Form eines Damesteins. Als Kind habe ich oft phantasiert, wenn ich mir die Muster der Bettdecken im Haus meiner Großmutter ansah. Für mich ist das Muster ein Weg, eine Lebensweise. Ich stelle mir die Kreuzung der Streifen als eine Straßenkreuzung vor, und die Trennlinien in ihrer Überquerung – als ein Kruzifix darauf.
3
Das Werk stellt die eigentlichen 12 Apostel dar. Einige von ihnen erkennen wir an mit ihrem Tod verbundenen Gegenständen. Nachdem sie Jesus begegnet waren, wurden sie wiedergeboren und glichen sich anfangs, aber sie gingen unterschiedliche Wege, wenngleich das Ziel identisch war.
4
In jedem belarusischen Dorf steht ein Kreuz, ob katholisch oder orthodox, manchmal auch beide nebeneinander. Es ist nicht nur ein Attribut des Glaubens, sondern auch ein symbolischer Anfang oder ein Ende des Wegs (das Kreuz steht am Eingang des Dorfes).
Für mich ist das Kreuz auch eine Erinnerung daran, dass jeder von uns ein Fragment des großen Ganzen ist: Wir sind mit anderen Teilen verbunden, aber gleichzeitig gehen wir unseren eigenen Weg, wir tragen unser eigenes Kreuz.
5
Der achtzackige Stern ist das bekannteste Element des Volksornaments. Es wird immer noch verwendet, um die belarusische Herkunft der Ware zu betonen. Das Kruzifix ist das Hauptwerk der Serie. Es verbindet das volkstümliche (heidnische) Symbol und die Figur des Apostels. Der Apostel, gekreuzigt auf dem Nationalstern, ist eine Metapher des Leidens und der Wiedergeburt der Nation. Unsere Kultur ist unser Schatz, und gleichzeitig unsere größte Bürde.
Wir kämpfen für unsere Kultur und wir werden dafür und darauf gekreuzigt.
Weitere Informationen finden sie hier:
http://12apostle.eng.tilda.ws/eng
Kuratorin des Projekts: Katsiaryna Savitskaya
ENGLISH
There are many tragic pages in the history of Belarus: wars among neighbors, division of territory, substitution of historical references. Likewise, the history of Belarusian artistic culture is full of testimonies and stories about lost relics and artifacts.
One of such stories is about the 12 apostles of the Radziwill family – 12 statues of the New Testament apostles in the size of human height that were made or covered with gold and decorated with precious stones. During the divisions of the Commonwealth, the statues disappeared. There is a legend that they are still hidden under the ground somewhere in the Nyasvizh (Niasviž) park.
During my school years I lived in Nyasvizh and often heard about the hidden apostles, and even more often about how great it would be to find them. This led me to think about values – nominal, historical, cultural.
Belarusian culture is a fusion of Christian and pagan heritage, organically intertwining symbols from both. I portray the apostles themselves, their life and death, with the help of the visual language of our culture, and vice versa, I portray our culture with the help of the Christian apostles.
Home and religious artifacts in museums and in abandoned villages give me the key to understanding the modern culture of Belarus, its place in the context of European and world cultures.
But no less valuable for me are human actions, the ability to see the beauty of life around us, to find gems right in front of my eyes. I believe that each of us can create new treasures.
Our main value – along with culture, preserved artifacts and knowledge – are active and educated people who are able to see and act. We are the masters of our culture.
Therefore, the viewer finds himself in the space of the project and can influence it. Selfies become part of the project, indicating the personal value of the observer and her relationship to the content of the project.
1
The figures of the apostles remind me that everyone is woven into the web of culture, even if they are not aware of it. Individuals weave their part of the culture and influence society. The rhombus is one of the most common elements of Belarusian ornamentation (it represents sun), the basis of straw “spiders” (traditional ornaments, amulets), as well as the “heart” of wooden gables of houses in Polesye.
2
In Belarusian weaving, the checkered motif is very common: a uniform check, a different-sized check, or even a checker. As a child, I often fantasized looking at the bedspread patterns in my grandmother’s house. For me, this pattern is a road, a way of life. I imagine the intersection of the stripes as a crossing of roads, and the pattern that emerges in the intersection as a crucifix at a crossroads.
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The work depicts the 12 apostles themselves. Some of them can be recognized by the objects associated with their decease. After meeting Jesus, they were reborn and resembled each other in the beginning, but their ways differed from each other, even though they aimed the same destination.
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In every Belarusian village there is a cross: either a Catholic or an Orthodox one, sometimes both side by side. It is not only an attribute of faith, but also a symbolic beginning or end of the way (the cross is set at the entrance to the village).
For me, the cross is also a reminder that each of us is a fragment of a large blanket: we are connected to other parts, but at the same time we choose our own way, we have our own cross to bear.
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The eight-pointed star is the most recognizable element of the folk ornament. It is still used to emphasize the Belarusian origin of the goods. Crucifixion is the main work of the series. It connects the folk (pagan) symbol and the figure of the apostle. The apostle, crucified on the national star, is a metaphor for the suffering and rebirth of the nation. Our culture is our treasure, but it is also our burden. We fight for our culture and we are crucified for it and on it.
Further information you can find here:
http://12apostle.eng.tilda.ws/eng
Сurator of the project: Katsiaryna Savitskaya